Bildung zwischen Ideal und Nutzen – Von den Preußischen Reformen zum lebenslangen Lernen
Im Zuge der Preußischen Reformen („Reform von oben“) [1] in den Jahren 1807–1815, initiiert durch Karl Freiherr vom und zum Stein sowie Karl August von Hardenberg, trafen zwei grundlegende Bildungsideale aufeinander, die die deutsche Bildungsentwicklung bis heute prägen.
Auf der einen Seite stand das neuhumanistische Bildungsideal [2], das eine ganzheitliche, zweckfreie Menschenbildung – die Persönlichkeitsbildung – in den Mittelpunkt stellte. Sein bedeutendster Vertreter war Alexander von Humboldt, der Bildung als Entfaltung der individuellen Anlagen und geistigen Kräfte verstand.
Auf der anderen Seite stand das utilitaristische Bildungsideal, das den praktischen Nutzen des Wissens betonte und Bildung vor allem als Vorbereitung auf das Leben und die Arbeitswelt verstand. Dieses Konzept wurde maĂźgeblich von Johann Gottlieb Fichte vertreten.
Humboldt ging davon aus, dass die berufliche Ausbildung erst nach der Persönlichkeitsbildung erfolgen solle. Der „Nutzen des Einzelnen für den Staat“ – oder, in moderner Terminologie, für die Wirtschaft – war für ihn nachrangig. Fichte hingegen vertrat den Ansatz einer Nationalerziehung, die den Einzelnen im Sinne des Gemeinwohls und zum Vorteil des Staates formen sollte. Damit stellte Humboldt das Individuum und dessen Entwicklungspotenzial ins Zentrum, während Fichte das Interesse einer „höheren Ordnung“ – des Staates, heute könnte man sagen: der Wirtschaft – überordnete.
Beiden Konzepten lag jedoch ein gemeinsames Paradigma zugrunde: das des Lernens auf Vorrat. Bildung wurde als etwas verstanden, das in jungen Jahren abgeschlossen werden konnte – eine Art Vorrat an Wissen, der das Individuum für das gesamte Leben rüsten sollte.
Die moderne Pädagogik hat sich von diesem Verständnis weitgehend gelöst. Sie orientiert sich am Konzept des lebenslangen Lernens, das auf drei zentralen Einsichten beruht:
- Erstens ist es heute unmöglich, in der Jugend alles zu erlernen, was im späteren Leben relevant sein wird – zu schnell wandelt sich die Welt.
- Zweitens ist der Umfang des verfĂĽgbaren Wissens zu groĂź, um ihn in einer abgeschlossenen Bildungsphase zu vermitteln.
- Drittens wird vieles, was heute gelernt wird, morgen bereits veraltet oder vergessen sein.
Folgerichtig gewinnt das Konzept des situativen Lernens an Bedeutung: Lernen geschieht dann, wenn es tatsächlich gebraucht wird. Wissen wird nicht mehr als Vorrat, sondern als Ressource auf Abruf verstanden – flexibel, kontextbezogen und lebensnah.
Überträgt man diesen Gedanken auf das heutige Schulsystem, ergäbe sich eine radikale Veränderung: Schulen würden sich darauf beschränken, grundlegende Kompetenzen – Lesen, Schreiben, Rechnen, kritisches Denken – zu vermitteln. Spezifisches Wissen würde erst dann erworben, wenn es im Leben tatsächlich benötigt wird: etwa die Fähigkeit, eine Steuererklärung zu erstellen oder ein Integral zu lösen.
Ein solches Bildungssystem würde jedoch eine Revolution der bestehenden Lehr- und Lernmethoden voraussetzen – und eine grundlegende Neuorganisation des gesamten Lernprozesses, weg von der Belehrung hin zu selbstgesteuertem, bedarfsorientiertem Lernen.
Das sind zwei Linien, wie - betreute - Bildung betrachtet werden kann, die ein Spannungsfeld ergeben, aus dem evtl. weitere Ansätze hervorbringen könnten, wie eine Bildung der Zukunft jenseits der Schule aussehen könnte.
[1] Preußische Reformen – Wikipedia
[2] Neuhumanismus – Wikipedia